Auf dem Post-It steht eine nur sehr kurze Nachricht (Uhrzeit und Raumnummer) in einer Schrift, die ich spontan keiner meiner Freundinnen zuordnen kann. Eigentlich habe ich keine Lust, aber da ich nicht weiß, wem ich absagen muss, folge ich dem Zettelchen doch.
Die Tür zum Konferenzraum, der diesen Namen aus unerfindlichen Gründen trägt, lässt sich schwer öffnen, und ich denke kurz an Kerstin, bevor ich herein trete. Die Tische sind zu einer Tafel zusammengeschoben, Kaffee steht bereit, ebenso Kuchen und Geschirr. Am Kopfende sitzen Herr Wallert und Frau Crande, und sie nicken mir zu, als hätten sie seit Stunden hier gewartet.
Felizitas hebt grüßend die Hand, sie scheint sich nicht zu trauen etwas zu sagen. Ich werfe Stefan einen Blick zu. „Haben wir… Haben wir irgendwas verbrochen?“
„Wir sind noch nicht vollzählig.“ erklärt Frau Crande.
„Das beantwortet nicht meine Frage.“ lasse ich verlauten und setze mich. Mein Blick zu Herr Wallert verschafft mir ein wenig Beruhigung, denn er lächelt mich an.
„Du hast also auch so einen Zettel bekommen?“ vermutet Stefan, als Emily durch die Tür tritt. Ihr folgt Megan, die ein wenig verhuscht wirkt. Als sie sich gesetzt haben, sieht uns Frau Crande einmal der Reihe nach an. Ich überlege mittlerweile, was das sein könnte, was wir angestellt haben, komme aber noch immer nicht zu einem zufriedenstellenden Ergebnis.
„Es freut mich, dass ihr alle da seid.“ beginnt die Kollegin, nachdem Herr Wallert sie auf die Uhrzeit aufmerksam gemacht hat. Daina kommt hinzu, setzt sich aber wortlos zu uns. Auch ihr scheint schleierhaft, warum wir hier sind.
Die Älteste von uns räuspert sich, während der Kollege beginnt Kaffee zu verteilen. „Es ist so: Wir wollten mal mit euch reden.“
Sie tauschen einen Blick, er nickt. „Ihr macht uns die letzten Wochen Sorgen, und zwar jeder und jede von euch. Und wir haben beschlossen, dass es so nicht weitergeht. Ihr scheint gerade echt den Halt verloren zu haben, und,“
„Ihr seid unerträglich.“ beendet sie seinen Satz.
Womit die anderen gerechnet haben, kann ich euch nicht sagen, aber sicher war es nicht das, was sie erwarteten. Daina hebt eine Augenbraue. „Ach?“
Frau Crande lässt sich nicht beirren. „Wir versuchen schon die ganze Zeit, euch auf die richtige Spur zu bringen. Doch das ist herzlich schwer, wenn ihr es nicht zulasst. Mir jedenfalls reicht es, und dem Kollegen Wallert auch. Wir reden heute Tacheles, und danach dürft ihr uns dann auch gern hassen, aber das ist dann eh nur eure Teenagerzeit und wird abklingen, wenn ihr erwachsen werdet und erkennt, dass wir Recht hatten.“
Herr Wallert hat mittlerweile an alle Kaffee und selbstgemachten Kuchen verteilt. Sarah legt ihre Stirn in Falten, Stefan beginnt zu essen, als sei nichts los. Ich bin wohl die einzige, die sich fühlt, als müsse sie hier raus. Ich rufe mich zur Ordnung und sehe wie Daina sich die Lippen am Kaffee verbrennt.
Frau Crande streicht sich das Haar zurück und fixiert Sarah. „Kind, du musst etwas ändern. Du machst dich kaputt, wenn du dich deinem Liebeskummer so hingibst. Du bist eine tolle Frau, du bist liebenswert und humorvoll, du bist sportlich nicht zu schlagen und die Art, wie du dich um deine Schüler kümmerst, ist wunderbar.“
„Er – dieser ominöse er – hat dich nicht verdient. Das wirst du früher oder später selbst noch erkennen. Aber uns wäre es lieb, wenn du es möglichst früh erkennen würdest. Denn es raubt dir die Kraft und die Konzentration, und das lassen wir nicht länger zu.“ Herr Wallerts Augen sind streng, das kennt man sonst nicht von ihm.
„Und nun zu dir.“ Frau Crande fixiert Felizitas, die zur Seite sieht. „Das, was du machst, ist unverantwortlich. Selbst wenn es dir nicht um dich geht, dann doch zumindest um dein Kind. Hör auf zu tun, als wäre das alles nicht passiert. Du erwartest ein Kind, ob nun mit diesem Mann oder ohne, die Tatsache ist nicht zu ändern. Und das ist schmerzhaft, ja, aber nicht der Tod. Fang an Verantwortung zu übernehmen, du wirst Mama. Verstehst du? Du wirst die Mama eines kleinen, süßen Babys, und das ist eine wirklich wundervolle Sache. Ich meine,“
„Wir meinen,“ unterbricht Herr Wallert sie, weil sie sich ein wenig verrannt zu haben scheint in die Baby-Sache. „dass du das schaffst. Du bist eine starke Frau die schon mit dem ein oder anderen Problem zurechtgekommen ist. Du wirst, wenn alles in die Brüche geht, nicht die erste Alleinerziehende sein. Und wir werden dich unterstützen, so gut wir können.“
„Daina.“ Schon hat der Kollege ihr nächstes Opfer ausgesucht. „Du musst auch etwas machen. Dieser Fachschaftsstreit nimmt Ausmaße an, die nicht mehr gesund sind. Wir haben keine Lust dich in ein paar Wochen im Krankenhaus zu besuchen, weil ihr angefangen habt euch gegenseitig mit Chemikalien zu befeuern.“
Frau Crande stimmt ihm zu. „Außerdem ist Frau Prosch doch eine vernünftige Frau. Ich verstehe nicht, wie sich zwei so intelligente Frauen wie ihr es seid zu solch einem Schwachsinn hinreißen lassen konntet. Jetzt aber ist es geschehen – also beendet das so schnell wie möglich. Es belastet euch nur unnötig. Und es ist kaum auszuhalten, dass das alles auch noch in einer Fachschaft geschieht, die theoretisch so toll ist.“
„Nun zu dir, meine Liebe.“ Frau Crande nimmt sich auch Emily vor, die bislang versucht hat so zu tun, als wäre sie nur Zuschauer in diesem Schauspiel. „Was ist bei dir los? Du bist niedergeschlagen und lustlos, du hast deine AG-Pläne komplett aus den Augen verloren und auch alles andere scheint dir egal zu sein.“
„Man sieht dich kaum mehr – und, noch schlimmer, man hört dich kaum noch. Du bist wie ein Schatten im Kollegium geworden. Das ist nicht gut.“ unterstützt sie Herr Wallert.
„Wir möchten, dass du darüber nachdenkst, was dich so belastet, und ob du nicht vielleicht hingehen solltest und mit jemandem von uns reden. Oder von den anderen. Oder irgendeiner Stelle. Oder sonst irgendwem. Wir wollen nicht, dass es irgendwann böse endet.“ Frau Crande mustert sie. „Wir wollen nicht, dass du irgendwann auch in eine Klinik musst.“
„Und auch du, Stefan,“ wendet sich Herr Wallert an den Mann, der scheinbar entspannt die Teller vom Kuchen befreit. „nervst. Du hast gerade eine schwierige Phase, das können wir alle nachvollziehen, aber mein Gott, schau dich an. Du bist jung, gesund und soweit erfolgreich, wie man es in dieser Schule sein kann.“
„Diese Frau macht dir das Leben nicht leicht, das wissen wir, und auch, dass du Schwierigkeiten hast damit umzugehen. Aber vielleicht solltest du deine Einstellung zu der ganzen Sache überprüfen. Du kannst da sein für sie, du kannst ihr ein Freund und eine Stütze sein, du kannst versuchen ihr zu helfen, wo sie deine Hilfe annimmt – aber nicht mehr.“ Die Kollegin ergreift ihre Tasse. „Weißt du, deine Absicht, die ist ja durchaus ehrenwert… Aber das ist nun mal vollkommen unrealistisch. Du wirst sie nicht retten können, wenn sie es nicht zulässt. Und du musst, um ihr eine Hilfe zu sein, auch auf dich und deine Gefühle aufpassen.“
„Megan,“ beginnt Frau Crande dann, muss sich aber fassen. Sie schüttelt den Kopf und blickt ihr in die Augen, die junge Kollegin sieht weg, verkrampft aber ihre Hände ineinander. „Bitte. Bitte, bitte, bitte unternimm etwas und mach nicht so weiter. Wir ertragen das nicht, niemand erträgt das. Wie kann man so traurig sein? Jeder Mensch sollte etwas haben, das ihn erfreut. Bei dir haben wir gerade das Gefühl, dass es da gar nichts gibt. Du musst anfangen dich wieder darauf zu konzentrieren, was dir wichtig ist. Was du an diesem Beruf liebst. Was du an deinen Hobbys schätzt und an deinen Freunden magst.“
Herr Wallert unterbricht das Einschenken des Kaffees. „Wenn du nicht darüber reden willst, ist das deine Sache. Aber du solltest wissen, dass wir da sind für dich. Wir alle haben Interesse an dem, was mit dir los ist, und du bist uns wichtig. Wenn es nur ein Durchhänger ist, gib dir einen Ruck. Solltest du ein ernstes Problem haben, fange endlich an etwas daran zu ändern.“
„Schau, wir wissen, wie schwer es hier zeitweise für dich ist.“ Frau Crande hat ihre Hand auf die der Referendarin gelegt. „Aber du bist nicht das Opfer aller Umstände. Du bist eine erwachsene Frau, die ihr Leben ändern kann, und die dies meiner Meinung nach auch dringend tun sollte.“
„Und nun zu dir.“ spricht mich Herr Wallert an, während mir Felizitas deutet die Tasse hinzustellen, weil meine Hände zittern. Prima, wie das alles wieder zusammenspielt.
„Du musst dir endlich darüber klar werden, was bei dir los ist. Jeden Tag warten wir darauf, ob es etwas Neues gibt, und das macht einen verrückt. Du bist viel zu zart besaitet und wenn dann auch noch deine Nerven blank liegen… Versuch einen Schlussstrich zu ziehen, das ist das einzige, was geht. Entweder startest du in eine neue Zukunft mit deinem Freund, oder in eine ohne ihn. Wie es auch kommt, du wirst deinen Weg finden. Aber hör auf so abhängig von diesem Mann zu sein, auch wenn es unsagbar schwer fällt.“
Frau Crande stimmt ihm zu. „Es ist nicht gegen dich gerichtet. Aber du kannst so nicht verbleiben. Vielleicht bricht es dir das Herz, ja, aber es wird auch bei dir weitergehen. Du wirst dein Glück ebenso finden wie alle anderen auch. Und wenn die Zeiten gerade schwer sind, versuche bei uns Halt zu finden. Dafür sind Freunde schließlich da.“
„Das war hart, und sicher nicht das, was ihr hören wolltet. Aber es war nötig.“ Die Lehrerin atmet kurz durch, dann sieht sie zu dem Kollegen. „Ich denke das war es soweit, oder? Mehr haben wir unseren Küken nicht zu sagen.“
„Erst mal.“ Er legt ihr die Hand auf die Schulter und sie streicht sich über ihre Augen. „Dann lass uns gehen. Ich glaube hier muss viel nachgedacht werden.“
Herr Wallert erhebt sich und begleitet sie zur Tür. „Wie lange wird es dauern, bis sie aus der Teenagerphase draußen sind?“
Sie lächelt. „Oh, das willst du wirklich nicht wissen…“