Ich, die Schlägerbraut

 

Es ist ja nicht so, dass ich viel von meinen Schülern erwarten würde.
Die können nicht eine Seite mehr im Buch lesen, als unbedingt nötig, schon gar nicht, wenn sie eh schon mehr als zehn Seiten lesen müssen. Von zwanzig wollen wir mal gar nicht sprechen, aber solche Absonderlichkeiten würde ich selbstverständlich niemals ernsthaft von ihnen verlangen.

Ich bin mir auch bewusst darüber, dass niemand von ihnen Zuhause mehr macht, als er unbedingt muss, deshalb habe ich so übersteigerte Ambitionen wie freiwillige Aufgaben aufgegeben. Die Erkenntnis, dass kein Schüler, wenn es sich nicht gerade um einen Fünftklässler handelt, jemals eine Aufgabe bearbeiten würde, die er nicht notwendigerweise bearbeiten muss, habe ich auch recht schnell gewonnen, so ungefähr nach dem ersten halben Jahr meines Referendariats.

Aber die wenigen Aufgaben, die machbaren Aufgaben, die Aufgaben welche keinen der Schüler überfordern sollten, diese Aufgaben, die ich mit Mühe und Sorgfalt aussuche, über die ich mir Daheim meine Gedanken gemacht habe, die ich selbst entworfen oder zumindest gelöst habe, die ich dem Unterricht und den Anforderungen angepasst habe, die Aufgaben, ja eben jene Aufgaben, sollten die Schüler dann doch bearbeiten.

Machen sie aber nicht, natürlich. Weil die blöde Falke nicht so rumstressen soll mit ihrem Mist. Interessiert doch eh keinen, ob der komische Typ bei der Bürgschaft von diesem Schiller irgendwas aus einer Quelle trinkt oder nicht. Und dass die Frau bei dieser Ballade mit dem Handschuh den Mann am Ende nicht kriegt, obwohl der sie anfangs wollte, ja wer, bitte schön, soll denn sowas verstehen?
Relativsätze sind was für Loser. Kommasetzung hat man sowieso noch nie gebraucht. Was nervt die schon wieder mit Adverbialien? Häh? Wie meint die das? Akkusativ…was? Warum denn jetzt Fremdwörter lernen? Kommt voll uncool, wenn man mit so einem Schwachsinn ankommt, glauben die Kumpels bestimmt, man will angeben. Und was soll denn der Quatsch mit dem Konjunktiv? Kennt eh keiner, „schwömme“. Oder ist das auch ein Fremdwort?

Frau Falke aber ist wie immer die Ruhe selbst, sie versucht die Klasse mit einem Lächeln zu betreten und sich nicht anmerken zu lassen wie wenig Lust sie auf Schüler hat, die eh keinen Bock auf Unterricht haben. Und weil ich ja nicht blöd und dank meiner alten Lieblingsfeindin Frau Rondell schon genügend angezickt bin, erspare ich mir die Enttäuschung der nichtgemachten Hausaufgaben und fange direkt mit dem neuen Thema an.
Das liebe ich so an Grammatikeinheiten, man kann ansetzen wo man will und eigentlich jede Stunde ein neues Thema beginnen.

 

„Heute lernen wir etwas über das Passiv.“ fange ich an, schreibe groß „Passiv“ an die Tafel und deute mit meinem Stift darauf.
„Passiv. Pas-siv. Kann mir jemand von euch sagen was das ist?“

Andreas, seit einigen Wochen der beste Freund Abduls und unheimlich cool, meint wieder einmal Ahnung zu haben: „Das ist doch sowas wie wenn man selber das nicht macht sondern ein anderer.“

Frau Falke: „Zum einen solltest du dich melden, Andreas, zum anderen ist das nicht ganz richtig.“

Andreas: „Ist es doch. Wenn das ein anderer macht ist das Passiv. Das weiß ich, das hatte mein Bruder mal.“

Frau Falke: „Der hatte mal Passiv?“

Andreas: „Ja. Nee, nicht wie Sie meinen. Boah, Sie wollen mich nicht verstehen.“

Frau Falke: „Passiv bedeutet nicht, dass du auf deinem Platz sitzt und ich hier stehe. Die Tatsache, dass du nichts mit meiner Handlung zu tun hast, macht diese nicht zu einer passivischen Handlung.“

Damit habe ich für genug Diskussionsstoff gesorgt, weil der Bruder von Andreas, der ist ja schon ein total alter, der ist ja schon Sechzehn. Es ist laut, die Stimmung aufgebracht, ich muss erst mal für Ruhe sorgen, so wie immer.

„Leute, bitte. Also das Passiv.“

Keine Reaktion.

„Das Passiv ist…“

Keine Reaktion.

„LEUTE!“

Keine Reaktion.

 

Ich sprinte auf Mark zu und hebe die Hand, als würde ich zu einem Schlag ausholen. Plötzlich ist es totenstill im Raum.

Mark: „Wollen Sie mich schlagen oder was?“

Frau Falke: „Und jetzt als Aussagesatz.“

Mark: „Wie meinen Sie denn jetzt das?“

Frau Falke: „Du sollst eine Aussage aus deiner Frage machen. Erzähl der Klasse mal, dass ich dich schlage.“

Mark: „Frau Falke schlägt mich.“

Frau Falke: „Gut, und jetzt sollst du es im Passiv sagen. Also „Ich werde…“.“

Mark hat es verstanden, grinst nun über das ganze Gesicht: „Ich werde von Frau Falke geschlagen.“

Frau Falke: „Genau, sehr gut.“

Es ist das erste Beispiel, mit dem ich es geschafft habe eine Klasse zum Zuhören zu bringen. Noch nie haben Schüler dermaßen begeistert das Passiv gelernt.
Ich werde geschlagen, du wirst geschlagen. Super. Und zwar so super, dass sie gar nicht mehr aufhören wollen.
Er/ sie /es wird geschlagen, wir werden geschlagen. Selbst als ich das Tafelbild beendet habe und sie es abschreiben sollen.
Ihr werdet geschlagen, sie werden geschlagen. Dabei hat es schon zur Pause geklingelt.

Ich hoffe, dass sie das Spiel auf dem Hof nicht weitertreiben, sonst habe ich spätestens in drei Minuten den ersten entsetzten Kollegen an meiner Seite. (Du hast WAS getan?/ Warum spinnen die wieder so rum? Hast du denen eine Arbeit zurückgegeben oder was?)
Aber die Gedanken muss ich mir eigentlich nicht machen, denn zumindest die Schüler scheinen es nicht zu glauben.
„Geschlagen? Frau Falke? Das glaube ich nicht, die ist doch so eine Liebe.“

Und so bin ich wieder versöhnt mit meinem Unterricht, freue mich, dass endlich einmal etwas hängengeblieben ist bei ihnen und überlege, was ich als nächstes Beispiel nehmen kann, das ebenso eindrucksvoll ist.
Erstaunlicher Weise tut sich ein weites Feld interessanter Verben auf: Schlagen, erstechen, töten, betrügen, erschießen, verprügeln…

Passiv kann super sein. Wenn man nur will.

Es grüßt ganz lieb
Frau Falke

P.S.: Ich bin im Übrigen doch noch drauf angesprochen worden, Renate meinte, dass ich wohl ein weniger gefährliches Beispiel hätte wählen sollen. „Wenn das erst mal die Runde macht…“
Aber mir macht das nichts aus, notfalls schlage ich zurück. Hahaha. Nein, nein, ehrlich.

 

Über Frau Falke

Eine Junglehrerin bloggt über ihren Schulalltag in Klassenräumen und Lehrerzimmern, die Eskapaden der Schülerschaft und die Erlebnisse mit dem einen oder anderen Kollegen.
Dieser Beitrag wurde unter So etwas passiert nur hier abgelegt und mit , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

16 Antworten zu Ich, die Schlägerbraut

  1. varisvarjo schreibt:

    Ach herrjeh… ich wünschte, ich hätte damals eine auch nur annähernd ambitionierte Deutschlehrerin gehabt wie dich! (und ich hoffe das „du“ ist okay, ist im Internet für mich zur Normalität geworden, aber wenn es stört auch gerne „Sie“)
    Unsere Lehrerin, die wir in der 9. Schulstufe bekamen, war gerüchteweise von einer Sonderschule. Die Art wie sie unterrichtete, ließ da auch irgendwie ähnliche Schlüsse zu. So war die erste „Grammatik-Aufgabe“ die wir in der 9. Schulstufe von ihr bekamen das Bestimmen von Satzgliedern. Satzglieder! Ich glaube das hatten wir seit der Grundschule nicht mehr gemacht.
    Von Rechtschreibung erzählte sie uns sowieso nie irgendwas – unser Glück dass wir eine ziemlich gute Klasse waren und es nur selten schlechtere Noten als 3er gab. Dann gab sie eines Tages arbeiten zurück, wo jeder mindestens einen Notengrad schlechter war als üblich. Wir wunderten uns über diese „Einheitlichkeit“, kann ja schwer sein dass die ganze Klasse „gleichzeitig“ einen Ausrutscher hat?
    Da erklärte sie uns, dass irgendeine „Übergangsfrist“ abgelaufen sei, und sie jetzt nur noch nach der „neuen“ Rechtschreibung korrigieren dürfte. Davor dufte sie noch beide (alte und neue) gelten lassen, jetzt eben nur noch die neue. Von der wir Schüler im Übrigen noch nie etwas gehört hatten… Und das ganze geschah im Abschlussjahr kurz vor unserer Matura 😀

    Also ich wäre absolut froh gewesen wenn ich jemanden wie dich als Deutschlehrerin gehabt hätte…

    • Frau Falke schreibt:

      Sehr gern das „Du“, es irritiert mich sowieso immer sehr zwischen all dem hin- und herspringen zu müssen.
      Deine Deutschlehrerin scheint…ein interessanter Mensch gewesen zu sein. Wobei ich es unglaublich finde, dass sie geglaubt zu haben scheint, die Tatsache des Vorhandenseins einer neuen Rechtschreibung wäre kein unterrichtsrelevantes Thema. o.O
      Ein Jahr vor dem Abitur hätte ich nicht noch die neue Rechtschreibung lernen wollen, schon gar nicht auf eigene Faust. Ich hoffe das hat euch in den schriftlichen Prüfungen nachher nicht allzu hart getroffen?

      • varisvarjo schreibt:

        Ich hatte eine 2, sonst war ich eher auf dem Niveau einer 1, und ich glaube durchgefallen ist niemand soweit ich mich erinnern kann. War also nicht so schlimm.
        Aber für mich ist es heute noch schwer, bei manchen Wörtern habe ich wirklich keine Ahnung ob groß, klein, auseinander oder zusammen etc. Zumal ich als Kind schon sehr viel und gelesen habe und mir dadurch eben die „alte“ Rechtschreibung total eingeprägt habe – wahrscheinlich hätte ich diese „Fehler“ also selbst dann noch gemacht, wenn unsere Lehrerin uns die neue Rechtschreibung beigebracht hätte XD

        Ja, ein interessanter Mensch war sie… und ein wirklich skurriler. Wer sonst würde sich allen Ernstes als Deutschlehrer vor die Klasse stellen, das Klassenbuch aufschlagen und allen ernstes fragen „Wer tut (!) fehlen?“. Anfangs dachte ich, das wäre ein Witz. Aber sie hat das immer so verdammt überzeugt gesagt o_O und auch nicht reagiert wenn wir geantwortet haben „Fehlen tut niemand!“

  2. antagonistin schreibt:

    Schönes Beispiel. Und es spricht sehr dafür, dass Menschen Dinge vor allem dann lernen, wenn sie einen emotionalen Bezug dazu haben. Zumindest in Bezug aufs Gedächtnis.

    Was allerdings das wohl übliche Genörgel der SchülerInnen angeht, man brauche diese Dinge im Leben nicht, so bin ich fast gewillt zuzustimmen was die Umsetzung angeht. Oder anders: ich habe es durch Abi und Uni geschafft und könnte heute die deutsche Grammatik als Theorie nicht erklären. Ich halte mich für eine Wort- und Sprachfetischistin, die sich für Wörter wie „schwömme“ begeistern kann, aber es frage mich niemand nach der korrekten grammatikalischen Bezeichnung. Rechtschreibung, Kommaregeln – alles mal gelernt. Und heute? Heute gilt eine neue, zuweilen begegnen mir seltsam geschriebene Wörter, die ich übernehme, wenn sie nicht allzu bizarr anmuten. Kommaregeln… nun ja, ein intuitiv gesetztes Komma hier und da lockert den Satz auf; ich möchte nicht wissen, ob hierbei noch was vom ursprünglich mal Gelernten übrig ist.

    Lesen war mir allerdings immer immens wichtig, auch zu Schulzeiten. Wenn auch nicht unbedingt das, was im Schulstoff vorgesehen war. Gibt es eigentlich Erkenntnisse darüber, ob die Fähigkeit zum Umgang mit Worten nicht eher eine Begabung ist, als die korrekte Anwendung von theoretischen Hintergründen? Fragen über Fragen … (Wann ist schon mal eine Deutschlehrerin zugegen?) 😉

    • Frau Falke schreibt:

      Ich würde so eine These auf jeden Fall unterschreiben, denn meine Mutter setzt ihre Kommas auch intuitiv und stets richtig. Zudem habe ich schon als Kind ein Wort aufschreiben müssen um zu sehen, ob es so oder so geschrieben wird, das ist dann auch fern jeglichem Auswendiglernens. Natürlich hat es auch damit zu tun, wie viel man im Leben gelesen hat. Schon im Sprachgebrauch merkt man oft, dass nach gewisser Lektüre die Aussagen ähnliche Formulierungen aufzeigen. (Das ist der Grund, warum man mich nach genau zwei Lektüren nicht ansprechen darf: Den Büchern von Lessing und den Werken Kants. 😉 )

  3. m schreibt:

    😀 GENAU das hätte bei meinen Schülern auch passieren können… 😀

  4. Nobelix schreibt:

    Also wenn ich mal zurückdenke, dann hätteich dich schon gern als Lehrerin gehabt. Als die Sportskanone schlechthin (Vorsicht, Ironie!) wurde ich immer als Beispiel fürs Passiv genommen – allerdings hieß es da „ich werde geturnt“.
    War auch so, ich habe zeitlebens keine vernünftige Rolle vorwärts hinbekommen…geschweige denn einen Handstand 😉

    Und beim Volleyball durfte ich erst keine Angaben mehr machen, und dann gar nicht mehr mitspielen…

  5. nadineswelt schreibt:

    Wenns den Schülern hilft, warum auch nicht? Ich finde die Idee übrigens gar nicht mal so schlecht, denn das ist lebendiger, als nur vorne zu stehen.

  6. rueckenpatientin schreibt:

    Hihi, sehr kreativ! Gut gemacht!

Hinterlasse eine Antwort zu m Antwort abbrechen